Manuela Sattlegger

19. Mai 20165 Min.

Keine Lust auf den Herrn Prinz zu warten

Wenn man so Anfang/Mitte 40 ist, beginnt man schon mal nachzudenken:

  • Ist das der richtige Weg, den man eingeschlagen hat?

  • Ist das die Beziehung, die ich führen möchte?

  • Was möchte ich noch in meinem Leben noch erreichen?

Jetzt wäre noch Zeit die Weichen für einen anderen Weg zu stellen…

C. G. Jung spricht vom Individuationsprozess, den jeder Mensch durchmachen darf. „Werde der, der du bist“ - so einfach dahin gesagt. Diesen jeden Menschen innewohnenden Entwicklungsprozess habe ich im Artikel „Kirschblüten – oder die Sehnsucht nach Entwicklung“ schon einmal einführend behandelt. In diesem Artikel behandle ich nun einen wesentlichen Punkt in der Jung’schen Psychologie: den Animus und die Anima, wobei ich mich hauptsächlich auf den weiblichen Entwicklungsprozess konzentriere.

Beim weiblichen Individuationsprozess spielt die Bewusstwerdung des eigenen Animus eine große Rolle. Beim Animus handelt es sich um einen Archetyp, der die männlichen Anteile in der Persönlichkeit der Frau charakterisiert. Nur so kann die Frau „Ganz werden“ und zu ihrer Weiblichkeit kommen.

Bleibt der Animus im Unbewussten, dann wirkt er über Projektionen.

Die Projektionen erfolgen in geistige/spirituelle/intellektuelle Persönlichkeiten. Animusgestalten finden wir in den großen Menschheitsdichtungen, Märchen und Filmen. Der Animus manifestiert sich z.B. als Dionysos, Siegfried, Prinz, Ritter Blaubart oder Drosselbart.

Projiziert wird aber auch in den Partner: so wählt eine Frau einen Mann aus, der z.B. selbstbewusst und ein einnehmender Redner ist, damit Sie diese Seiten zwar in ihrem Leben hat, aber nicht selbst entwickeln muss.

C. G. Jung bezeichnet die Anima des Mannes als Seele, den Animus der Frau als Geist und beschreibt diese folgendermaßen:

„Jeder Mann trägt das Bild der Frau von jeher in sich, nicht das Bild dieser bestimmten Frau, sondern einer bestimmten Frau. Dieses Bild ist im Grunde genommen eine unbewusste, von Urzeiten herkommende und dem lebenden System eingegrabene Erbmasse, ein „Typus“ („Archetypus“) von allen Erfahrungen der Ahnenreihe am weiblichen Wesen, ein Niederschlag aller Eindrücke vom Weib, ein vererbtes psychisches Anpassungssystem. Wenn es keine Frauen gäbe, so ließe sich aus diesem unbewussten Bild jederzeit angeben, wie eine Frau in seelischer Hinsicht beschaffen sein müsste. Dasselbe gilt auch von der Frau, auch sie hat ein ihr angeborenes Bild vom Mann. Die Erfahrung lehrt, dass man genauer sagen sollte: ein Bild von Männern, während beim Mann es eher ein Bild von der Frau ist. Da dieses Bild unbewusst ist, ist es immer unbewusst projiziert in die geliebte Figur und einer der wesentlichsten Gründe für leidenschaftliche Anziehung und ihr Gegenteil.“

[…] Das meiste, was die Männer über weibliche Erotik und überhaupt über weibliches Gefühlsleben zu sagen wissen, beruht auf der Projektion ihrer eigenen Anima und ist daher schief. Die erstaunlichen Annahmen und Phantasien der Frauen über die Männer beruhen auf der Wirksamkeit des Animus, der unerschöpflich ist in der Erzeugung unlogischer Urteile und falscher Kausalitäten. Anima sowohl wie Animus sind durch ungemeine Vielseitigkeit charakterisiert.“

(Jung Carl Gustav (1991) Vom Abenteuer Wachsen und Erwachsenwerden EIN LESEBUCH, ausgewählt von Franz Alt, Walter-Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau, S 104f)

Anima und Animus sind Archetypen

C. Jung bezeichnet Animus und Anima als Archetypen, denen eine große Bedeutung zukommt. Archetypen sind urtümliche Typen, die seit alters vorhandene allgemeine Bilder sind und stets und überall auftauchen, wie zum Beispiel die Gestalten des Helden, des Ungeheuers, des Zauberers, der Hexe, des Vaters, der Mutter, des weisen Alten, des Kindes uvm (Jung Carl Gustav (2005) Archetypen, dtv, München, S 8f).

Verena Kast sieht Anima und Animus als „zerzerrt“ an, weil sie einerseits mit den Elternkomplexen verbunden sind und andererseits, weil sie verdrängt werden. Diese werden deshalb verdrängt, weil sie oft mit Sehnsüchten verbunden sind und damit mit starken Gefühlen, die oftmals abgewehrt werden. Durch das Verdrängen und Abspalten drängen diese archetypischen Symbole ins Bewusstsein und lösen plötzliche Verstimmungen aus (Kast Verena (2007) Die Tiefenpsychologie nach C. G. Jung, Kreuz, Stuttgart, S 245).

Die Weiterentwicklung der Überlegungen C. G. Jungs

Die Überzeugung C. G. Jungs ist sehr hoch anzurechnen, dass jeder Mann etwas Weibliches und jede Frau etwas Männliches in sich trägt. Es gehört zur Ganzheit eines Menschen, dass jeder Mensch Männliches und Weibliches leben soll. Damit hat er zum Aufbrechen der Rollenklischees in unserer Gesellschaft beigetragen. Damit wurde ein kollektiver Entwicklungsprozess in Gang gesetzt, der unser Zusammenleben und auch das Verständnis von Familie verändert hat. Jeder hat die Möglichkeit sich so zu akzeptieren, wie man ist und nicht wie ein Rollenstereotyp es einen vorschreibt. Männer dürfen (zumindest in unserer Gesellschaft) intuitiver, sensibler und kreativer sein. Frauen dürfen autonomer, selbstbestimmter und zweckgerichteter denken.

Verena Kast setzte sich intensiv mit den Überlegungen C. G. Jungs auseinander und geht durch ihre therapeutische Erfahrung davon aus, dass Anima und Animus Archetypen sind, die von Mann und Frau jeweils beide erlebt werden können. Denn das Zusammenspiel von Anima - Animus spielt in jedem Leben eines Menschen eine große Rolle, sowohl für das Erleben der eigenen Identität als auch für jede Beziehung, deren Grundlage sie sind (Kast Verena (1985) Paare, Kreuz, Stuttgart, S 158 ff).

Dr. Höllrigl spricht auch von einem spirituellen Animus, der die Frau von innen stärkt und ohne diese bestärkende Seite kommt die Frau nicht zum Schöpferischen, zum Selbstvertrauen und letztendlich nicht zu ihrer Lebensaufgabe, zu ihrer Bestimmung.

Viele Frauen verharren allerdings in der Sprachlosigkeit, denn das Wort ist männlich geprägt. Dies ist aus meiner Sicht im z.B. politischen und wirtschaftlichen Engagement von Frauen sehr stark sichtbar. Frauen überlassen das „Feld der Macht“ oft Männern, gehen Konflikten und der Durchsetzung von Interessen (aus Angst, dass Beziehungen gefährdet sind) aus dem Weg. Viele Frauen haben Schwierigkeiten in Konfliktsituationen eine sachliche Ebene einzunehmen, vieles wird sehr persönlich und emotional gesehen. Ebenso wird oft die Durchsetzung des eigenen Weges als Verrat am realen Lebenspartner erlebt und dadurch zurückgestellt.

In vielen mal- und gestaltungstherapeutischen Prozessen geht es nun um die Integration des Schattens, das Zurücknehmen von Projektionen und das Erkennen von Verhaltensweisen, die auf Vater- und Mutterkomplex zurückzuführen sind. Insgesamt geht es um den eigenen weiblichen Lebensweg, diesen mutig zu gestalten und dafür Qualitäten in sich zu entdecken, die dem Animus zuzuordnen sind.

Werden die Animusqualitäten bewusst, so entwickeln sich Spiritualität, Kreativität und Selbstvertrauen. Damit geht der Weg in Richtung der eigenen Bestimmung und an die eigene Lebensaufgabe wird herangeführt.

Der Animus hilft der Frau zu ihr selbst zu stehen und auch tatkräftig zu handeln.

Gerade ein spiritueller Animus in einem selbst, hilft der Frau sich angenommen, gestärkt und geliebt zu fühlen. Ohne diese bestärkende Seite kommt die Frau nicht zum Selbstvertrauen und zum Schöpferischen. Dies ist eine tiefe Wurzel der Wandlung, die es ermöglicht Großes zu leisten und zwar nicht aus einer „vaterkomplexigen“ Leistungsorientierung heraus, sondern aus einer tiefen Quelle der weiblichen Kraft und des weiblichen Vertrauens (Interview mit Dr. Ute Höllrigl (Dezember 2011), geführt mit Erwin Bakowsky, St. Gerold).

Und dann brauchen wir Frauen plötzlich nicht mehr auf den Herrn Prinz warten…

Hier noch ein paar Lesetipps zur weiblichen Kraft und zum weiblichen Selbstvertrauen:

Höllrigl Ute (2011), ELLA - Ein innerer Entfaltungsprozess der Frau aus Träumen und Bildern, Erato Verlag

Clarissa Pinkola Estés (1997), Die Wolfsfrau – die Kraft der weiblichen Urinstinkte, Heyne

Kast Verena (1985) Paare, Kreuz, Stuttgart

Wehr Gerhard (1993) Selbsterfahrung durch C.G. Jung. Die Entdeckung des eigenen Ich, Pattloch Verlag, Augsburg

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